Seit der Gründung von emovis im Jahr 2001 haben wir mehr als 50 klinische Studien zu Depressionen durchgeführt. Dabei sind wir mit sehr vielen Betroffenen intensiv ins Gespräch gekommen. Wir wissen: Der Umgang mit Depressionen bzw. generell psychischen Störungen stellt oftmals eine enorme Herausforderung dar. Weil bei der Entstehung psychischer Störungen mehrere unterschiedliche Faktoren zusammenwirken, gibt es für ihre Behandlung kein Patentrezept – vielmehr ist es notwendig, mehrere Behandlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Dies ist inzwischen allgemeiner Konsens.
Umso erstaunter waren wir, als wir über diesen Telepolis-Artikel gestolpert sind. Der Autor kritisiert unter anderem den angeblich übermäßigen Einsatz von Psychopharmaka und bezeichnet eine unserer Anzeigen als „Suche nach menschlichen Versuchskaninchen“. Wir – und den Kommentaren zum Artikel zufolge auch einige andere Menschen – sind der Ansicht, dass der Autor die Entstehung und Behandlung psychischer Störungen unvollständig abbildet. In unserem Blogbeitrag erfahren Sie mehr über unsere Ansichten zu diesem wichtigen Thema.
Psychische Störungen – es gibt nicht DIE EINE Ursache
Wieso, weshalb, warum? Es liegt in der Natur des Menschen, danach zu streben, den Dingen auf den Grund zu gehen, ihre Ursache(n) herauszufinden. Diese Neigung zeigt sich bereits in sehr jungen Jahren: So können vor allem Eltern ein Lied singen von den unaufhörlichen neugierigen Fragen ihrer Kinder. Es ist sinnvoll, ergründen zu wollen, warum unsere Welt so ist, wie sie ist. Weshalb wir Menschen so sind, wie wir sind. Nur wenn wir über Ursachen Bescheid wissen, kann es uns gelingen, selbst Einfluss zu nehmen, zu verändern, zu kontrollieren und vorherzusagen.
Psychische Störungen, beispielsweise Depressionen, sind davon keine Ausnahme, sondern vielmehr ein anschauliches Beispiel: Die Frage nach ihren Ursachen, des sogenannten Substrats, beschäftigt die Fachwelt, seit es die Psychiatrie gibt. Das Verstehen ihrer Ursachen und Wirkmechanismen ermöglicht es, gezielt nach effektiven Behandlungsmethoden zu suchen – mit dem Ziel, das Leiden der Betroffenen zu heilen oder zumindest bestmöglich zu lindern.
Jedoch ist Wissen(-schaft) grundsätzlich nichts Fixes, in Stein Gemeißeltes. So ist es auch in Bezug auf psychische Störungen: Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich viele Modelle, Theorien und Vorstellungen abgewechselt, jede(s) davon mit seinen/ihren eigenen Verfechter*innen und Gegner*innen. Dabei kam es auch dazu, dass der ursprüngliche Begriff psychische Erkrankung durch den wertneutraleren Begriff psychische Störung abgelöst wurde – um der Einsicht Rechnung zu tragen, dass unser Wissen über die Entstehung und Ursachen noch unvollständig ist.
Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle, was genau psychische Störungen überhaupt sind. Es gibt viele Definitionen dieses Begriffs – bei allen von ihnen läuft es im Wesentlichen darauf hinaus, dass Störungen klinisch bedeutsame (also stark von der Norm abweichende) Erlebens- und Verhaltensmuster darstellen, die bei den Betroffenen Leiden, Beeinträchtigung, Freiheits- und/oder Kontrollverlust verursachen.
Im Hinblick auf psychische Störungen, speziell Depressionen, herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass viele unterschiedliche Faktoren – genetische, biologische, psychosoziale, interne, externe – in ihrer Kombination und Wechselwirkung eine Rolle spielen. Psychische Störungen besitzen also nicht DIE EINE Ursache, sondern sind durch eine einzigartige und vor allem dynamische Kombination all der genannten Faktoren bedingt – jeder von ihnen stellt sozusagen ein Stück im „Puzzle“ dar. Dementsprechend sollte man sich nicht auf DIE EINE (vermeintliche) Lösung bzw. Behandlung versteifen – vielmehr ist es sinnvoll, mehrere Behandlungsmöglichkeiten, unter anderem den Einsatz von Psychopharmaka, zu berücksichtigen.
Zunahme psychologisch-psychiatrischer Diagnosen
Der Telepolis-Artikel erwähnt den Anstieg psychologisch-psychiatrischer Diagnosen. Wie lässt dieser sich erklären? Dass gesamtgesellschaftliche Einflüsse natürlich eine Rolle spielen, dürfte jedem/jeder einleuchten: Je mehr Druck aufgebaut wird, je mehr Ängste geschürt werden – sei es vor der allgemeinen Zukunft oder konkret vor dem Weltuntergang, dem Fremden, dem Finanzkollaps oder der Arbeitslosigkeit –, je unkontrollierbarer das Leben wird, je weniger Handlungsfreiheit, Zusammenhänge und Absicherung bestehen, desto mehr Menschen entwickeln psychische Störungen und desto höher werden die Zahlen entsprechender Diagnosen.
Doch wie bereits erwähnt: An der Entstehung psychischer Störungen sind mehrere Faktoren beteiligt, unter anderem biologische. Zwar wurde bislang kein biologisches Substrat identifiziert, welches im medizinischen Sinne für psychische Störungen verantwortlich gemacht werden kann – doch eine Wirkung chemischer Substanzen auf das Substrat lässt sich nun mal nicht abstreiten. Bereits seit Jahrtausenden nutzen Menschen Alkohol sowie verschiedene psychotrope Pflanzen und Pilze, um ihre Bewusstseinszustände zu verändern. Nichts anderes macht die moderne Pharmaindustrie: Sie versucht mithilfe chemischer Substanzen, unerwünschte bzw. Leiden verursachende psychische Zustände bestmöglich zu korrigieren. Dass die Effektivität dieser Substanzen oftmals zu wünschen übriglässt, zeigt nur, wie komplex die Realität ist – und dass der biologische bzw. chemische Faktor zwar ein wichtiger, aber nicht der alleinentscheidende ist.
Insofern werden Psychopharmaka, beispielsweise Antidepressiva, weniger als „Glückspillen“, sondern vielmehr als „Krücke“ betrachtet: Sie geben Betroffenen die Chance, ihre schlimmsten Zustände und Phasen abzufedern und zu überbrücken – sie können ihre Stimmung zumindest so weit stabilisieren, dass weitere Behandlungsschritte, beispielsweise eine Psychotherapie, überhaupt erst möglich werden.
Auch der Autor des Telepolis-Artikels kommt nicht umhin, biologische Einflüsse anzuerkennen: So sind in seine Kritik hier und da knappe Sätze wie „Natürlich spielen Biologie, Gene und Gehirn eine Rolle.“ oder „Bei sehr schweren Symptomen können Medikamente zudem Leiden lindern und ein selbstständiges Leben ermöglichen.“ eingestreut. Insofern ist es ungerechtfertigt, zu behaupten, all die Psychopharmaka seien nur noch die Folge von Lobbyismus und Finanzinteressen der Pharmaindustrie. Dass die Entwicklung von Psychopharmaka bzw. generell Arzneimitteln zum Teil mit finanziellen Aspekten verbunden sind, ist klar – es gibt schließlich kaum einen Sektor, der nicht auch von Finanzinteressen geleitet ist.
Der Nutzen von Placebos
Der Telepolis-Artikel erwähnt die Hoffnung, psychische Störungen mithilfe alternativer Methoden behandeln zu können – so ist der Autor der Ansicht, dass beispielsweise der Placebo-Methode mehr Beachtung zukommen sollte. Aber diesem Gedanken wird ja bereits Rechnung getragen: In fast jeder klinischen Studie gibt es neben der Behandlungsgruppe – also Studienteilnehmer*innen, die das jeweilige zu prüfende Medikament erhalten – auch eine Placebogruppe, die lediglich ein Scheinmedikament ohne pharmakologische Wirkstoffe erhält. Die Placebogruppe dient ja gerade als Gradmesser der Wirksamkeit einer Substanz. Solche klinischen Studien sorgen dafür, dass Präparate, deren Effektivität das Placebo-Niveau nicht überschreitet, gar nicht erst bis zur Zulassung kommen.
Der Placebo-Ansatz hat in Form von Homöopathie sogar eine therapeutische Anwendung erhalten. Bloß ist die Wirksamkeit dieser Therapieform nun mal nicht zuverlässig – sonst wäre sie ja in unserem Gesundheitssystem schon längst Standard. Das konkrete Problem: Kliniker*innen suchen nach berechenbaren, voraussagbaren, anpassbaren und möglichst objektivierbaren Behandlungsmethoden. Die Dosis eines Präparats kann man sowohl steigern als auch reduzieren. Im Vergleich dazu ist es schwierig, einen Placebo-Effekt zu verstärken – schlimmstenfalls verliert der/die Patient*in komplett den Glauben an das Placebo-Objekt oder entwickelt eine gegenteilige Überzeugung. Dies kann negative Auswirkungen auf den gesamten weiteren Therapieverlauf nach sich ziehen.
Fazit
Psychische Störungen, beispielsweise Depressionen, stellen eine enorme Herausforderung dar – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sie nicht DIE EINE Ursache haben, sondern vielmehr durch ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Faktoren bedingt sind.
Nicht wenige an einer psychischen Störung leidende Menschen suchen erst nach mehreren Jahren professionelle Hilfe auf. Liegt dieser Schritt hinter ihnen, steht im weiteren Verlauf oft die Frage im Raum, ob die Einnahme eines Medikaments hilfreich sein könnte. Viele Betroffene probieren mehrere Medikamente aus, bis sie eine mehr oder weniger wirkungsvolle sowie verträgliche Linderung ihrer Beschwerden erleben. Zur zufriedenstellenden Behandlung psychischer Störungen ist es deshalb notwendig, Psychopharmaka im Rahmen klinischer Studien weiter zu erforschen.
Eine klinische Studie darf nicht mal eben einfach so durchgeführt werden, sondern grundsätzlich nur dann, wenn ihr zu erwartender Nutzen die eventuellen Risiken übersteigt – dieser Punkt sowie viele weiteren Voraussetzungen werden ausführlich geprüft, insbesondere von der Ethik-Kommission. Darüber hinaus ist die Teilnahme an einer klinischen Studie selbstverständlich immer freiwillig und kann jederzeit – ohne Angabe von Gründen sowie ohne negative Konsequenzen – abgebrochen werden. Insofern ist es mehr als unangebracht, Teilnehmer*innen klinischer Studien als „Versuchskaninchen“ zu bezeichnen.
Keine Frage: Psychopharmaka sind nicht in jedem Fall sinnvoll und selten sind sie die alleinige Lösung – aber oft sind sie ein wichtiger unterstützender Teil, für manche Betroffenen sind sie sogar lebensrettend. Dies geben unter anderem folgende Internetforen-Beiträge*, mit denen wir unseren Blogbeitrag abschließen möchten, eindrücklich wieder:
*Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit haben wir die originalen Internetforen-Zitate hinsichtlich Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung angepasst.
Patientenstimme
„[…] Viele Menschen mit Depressionen, auch ich selbst, finden es schwer, über die Krankheit offen und ehrlich zu sprechen. […]“ – so eine Betroffene, die 2019 an einer unserer Depressionsstudien teilnahm. Hier können Sie mehr über ihre Erfahrungen als Studienteilnehmerin bei emovis lesen.
Quellen (Zitate):
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